Ken Wilber, ein US-amerikanischer Philosoph, hat den vielbeachteten und wahrlich unbescheidenen Versuch gewagt, das Wissen über menschliche Entwicklung in einem Modell zusammenzufassen. Er bezieht dabei sowohl moderne naturwissenschaftliche und philosophische Erkenntnisse wie auch alte Weisheitstraditionen aus Ost und West ein. Sein Modell nennt sich AQAL („all quarters, all levels“) und ist trotz seiner Komplexität recht anschaulich in mehreren Büchern und Internet-Seiten dargestellt. Wilbers „kurze Geschichte des Kosmos“[1] lässt sich aus unserer Perspektive folgend zusammenfassen:
Die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins ist grob in drei Stufen gegliedert. Auf der egozentrischen Stufe steht das eigene Überleben und der unmittelbare persönliche Vorteil im Vordergrund. Auf der ethnozentrischen Stufe werden die Bedürfnisse des gemeinsamen Volkes handlungsleitend, teilweise auch entgegen persönlicher Interessen. Auf der weltzentrischen Stufe geht der Blick über die eigene Person und über die unmittelbare Volkszugehörigkeit hinaus, die Bedürfnisse der ganzen Menschheit (und darüber hinaus) werden bewusst und handlungsleitend.
Ein näherer Blick zeigt übrigens, dass Wilber mit der Darstellung dieser Entwicklungsstufen nicht alleine steht. Er fasst vielmehr bestehende Modelle mit unterschiedlichem Detailgrad von bis zu einem Dutzend und mehr Stufen kognitiver, aber auch moralischer und gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse entlang dieser Linie zusammen[2].
Nun wäre es verlockend, die Geschichte an diesem Punkt stehen zu lassen und entweder als naives Wunschbild abzutun oder als Erlösungsversprechen zu preisen. Letztlich werde sich ja ein weltzentrisches Bewusstsein durchsetzen „and the world will be one“[3]. Doch die Entwicklungsstufen bauen auf einander auf, sie ersetzen einander nicht einfach. Entgegen dem Modell des „homo oeconomicus“ nehmen wir nicht nur stur unsere eigenen Bedürfnisse wahr, sondern auch die Bedürfnisse größerer Gruppen oder eben der ganzen Menschheit. Stehen diese Bedürfnisse etwa mit unseren eigenen Bedürfnissen im Widerspruch, so verinnerlichen wir den entstehenden Konflikt. Wenn es um das Überleben geht (etwa in Paniksituationen) so ist Brechts „Erst kommt das Essen, dann die Moral“ wohl zutreffend. In den meisten Fällen ist es schlicht unvorhersehbar, wie einzelne Menschen innere Konflikte lösen werden.
Die gute Nachricht ist: Wir sind nicht nur zur Kooperation fähig, sondern weiten den Kreis unserer Kooperationspartner gemeinsam mit unserem Bewusstsein seit Jahrtausenden aus.
Die schlechte Nachricht folgt zugleich: Je stärker unser Bewusstsein wächst, desto komplexer werden unsere inneren Konflikte. Integrationsarbeit ist angesagt!
[1] Wilber, K., Eine kurze Geschichte des Kosmos, Fischer, 1997
[2] Zu den bekanntesten Modellen gehört „Spiral Dynamics“ [Beck. D. u.a., Spiral Dynamics: Leadership, Werte und Wandel, J. Kamphausen Verlag, 2007], aber auch Arbeiten des Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget und des indischen Philosophen Sri Aurobindo
[3] John Lennon, “Imagine”, 1971